Karneval

Vom Fleisch begehren und dem Fleisch entsagen

Der Karneval wird traditionell als eine Zeit des ausgelassenen Feierns, des Verkleidens und der Umkehrung gesellschaftlicher Normen betrachtet. Die gängige Etymologie führt das Wort Karneval auf das Lateinische carne vale (Fleisch, lebe wohl) oder carne levare (das Fleisch wegnehmen) zurück. Doch bevor dem Fleisch entsagt wird, muss es zunächst begehrt werden. Betrachtet man die lateinische Wurzel velle, die wollen oder begehren bedeutet, kann der Karneval als eine bewusste Phase des Fleischeswollens verstanden werden – nicht als Abschied, sondern als letzte, genüssliche Bestätigung, bevor der Verzicht folgt.

Schon in vorchristlicher Zeit gab es Feste, die der Karnevalstradition ähnelten. Die römischen Saturnalien und Bacchanalien waren Zeiten des Exzesses, in denen soziale Regeln temporär außer Kraft gesetzt wurden. Besonders auffällig war dabei die Umkehrung von Normen: Sklaven durften frei sprechen, Herren bedienten ihre Diener, und Laster wurde zum Ritual. Diese Festlichkeiten waren durch Fleischeslust im doppelten Sinne geprägt: durch üppiges Essen und durch körperliche Ausschweifungen.

Mit der Christianisierung dieser Bräuche wurde der Karneval in den christlichen Jahreslauf eingebunden. Die Fastenzeit, die mit Aschermittwoch beginnt, erfordert den Verzicht auf Fleisch (im mittelalterlichen Verständnis auch auf Milchprodukte und Eier). Der Karneval bot daher die Gelegenheit, sich noch einmal den Genüssen des Lebens hinzugeben. Eine theologische Betrachtung zeigt diesen Moment als bewusstes Wollen des Fleisches (carne velle) – das Ergreifen des Fleisches, bevor es entsagt wird.

Die Bibel spricht vielfach von der Spannung zwischen dem Geist und dem Fleisch. Im Neuen Testament wird das Fleisch oft als Sinnbild für die sündige Natur des Menschen verwendet: Ich sage aber: Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lüste des Fleisches nicht vollbringen. Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist, und der Geist wider das Fleisch; dieselben sind wider einander, dass ihr nicht tut, was ihr wollt. (Gal 5,16-17) Denn die da fleischlich sind, die sind fleischlich gesinnt; die aber geistlich sind, die sind geistlich gesinnt. Denn fleischlich gesinnt sein ist der Tod; aber geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. (Röm 8,5-8)

Nach dieser Lesart ist der Karneval ein bewusster Moment des Fleischlich-Seins – ein letztes Aufbegehren gegen die Disziplin der Fastenzeit. Dies entspricht auch der Idee der verkehrten Welt, in der Laster für einen Moment nicht nur erlaubt, sondern sogar gefeiert werden, bevor die Phase des Entsagens beginnt.

Die Idee, dass der Mensch etwas umso stärker begehrt, je näher sein Verbot rückt, ist tief in der menschlichen Natur verwurzelt. Die christliche Theologie kennt dieses Phänomen als die Kraft des Gesetzes – das Verbotene wird erst durch das Verbot selbst begehrenswert: Ich hätte die Sünde nicht erkannt, außer durch das Gesetz. Denn ich hätte nicht gewusst, was Begierde sei, wenn das Gesetz nicht sagte: ‘Du sollst nicht begehren.’ (Röm 7,7-8)

Dies könnte erklären, warum der Karneval oft mit Maßlosigkeit in Essen, Trinken und auch sexueller Freizügigkeit verbunden war. Wenn die Fastenzeit den Verzicht auf Fleisch und Genussmittel fordert, dann ist es gerade dieser bevorstehende Verzicht, der das Begehren steigert. Carne velle würde dann nicht nur das Wollen des Fleisches als Nahrung bedeuten, sondern auch die Lust an allem, was das Fleisch repräsentiert: Vergänglichkeit, Genuss, Sinnlichkeit. Doch nach dem Begehren folgt das Entsagen – die Notwendigkeit, den Verlockungen zu widerstehen.

Die Kirche hatte stets ein zwiespältiges Verhältnis zum Karneval. Einerseits wurde er toleriert, weil er als Ventil für gesellschaftliche Spannungen diente und letztlich doch in die Fastenzeit mündete. Andererseits gab es immer wieder Versuche, die Exzesse einzudämmen: Augustinus von Hippo sah in der Lust des Fleisches eine der größten Gefahren für die Seele und betonte die Notwendigkeit der geistlichen Disziplin über die körperlichen Triebe. Papst Innozenz III. (13. Jh.) kritisierte die zunehmende Zügellosigkeit des Karnevals und forderte eine stärkere Regulierung der Bräuche. Die Reformation unter Martin Luther führte in protestantischen Gebieten zur Abschaffung oder Umgestaltung des Karnevals, da die damit verbundenen Sünden als unvereinbar mit christlicher Lehre galten.

Doch trotz aller Kritik blieb der Karneval bestehen und entwickelte sich weiter, oft gerade in katholischen Regionen zu einem festen Bestandteil der Kultur.

Wenn man den Karneval als carne velle interpretiert, dann könnte man ihn als bewusste Entscheidung für das Fleischliche vor der Zeit des geistlichen Verzichts verstehen. In gewisser Weise spiegelt er das menschliche Dilemma wider: die Sehnsucht nach Genuss auf der einen Seite und die Einsicht in die Notwendigkeit von Disziplin auf der anderen.

Wie aber sollen wir als Christen mit solchen Festen umgehen? Die Bibel verbietet das Feiern nicht grundsätzlich. Vielmehr gibt sie die Weisung, dass alles, was wir tun, zur Ehre Gottes geschehen soll: Ob ihr nun esset oder trinket oder was ihr tut, so tut es alles zu Gottes Ehre. (1Kor 10,31) Auch Paulus betont, dass Christen an Festen teilnehmen dürfen, solange sie damit keinen anderen Gott verehren oder in Sünde fallen: Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. Alles ist mir erlaubt, aber ich will mich von nichts gefangen nehmen lassen. (1Kor 6,12)

Daher liegt es an jedem Gläubigen, seine Grenzen zu kennen. Freude, Gemeinschaft und Feiern sind nicht verboten, doch Maßlosigkeit, Unmoral und Götzendienst sind klare Gefahren. Der Karneval kann ein kulturelles Fest sein, doch er darf nicht zur Rechtfertigung für sündiges Verhalten werden. Jeder Christ muss sich fragen: Dient mein Handeln der Ehre Gottes oder führt es mich weiter von ihm weg?

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Verstanden!