Die Vorstellung einer „Vorentrückung“ – also dass die Gemeinde Jesu heimlich vor der großen Trübsal von der Erde entrückt werde – ist in vielen evangelikalen Kreisen weit verbreitet. In Predigten, Büchern und Filmen wie “Left Behind” wird sie fast selbstverständlich vertreten. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Diese Lehre ist nicht einmal in der Bibel verankert, sondern eine relativ junge Entwicklung der Theologiegeschichte.
Bis ins 19. Jahrhundert hinein findet sich keine Spur einer Vorentrückungslehre. Weder die Kirchenväter, noch die Reformatoren, noch große Ausleger der Neuzeit kannten eine „zweiteilige Wiederkunft Christi“. Erst John Nelson Darby, ein Prediger der Plymouth Brethren, entwickelte diese Idee um 1830. Später griff die „Scofield Reference Bible“ diese Sicht auf und machte sie populär. Die Kirchengeschichte selbst zeigt also: Diese Lehre ist eine neuzeitliche Sondertradition, nicht die Lehre der Apostel.
„Denn der Herr selbst wird, wenn der Befehl ergeht und die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallt, vom Himmel herabkommen, und die Toten in Christus werden zuerst auferstehen. Danach werden wir, die wir leben und übrigbleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden in Wolken dem Herrn entgegen in die Luft; und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit.“ (1. Thess 4,16–17). Befürworter sehen hier eine geheime Vorentrückung. Doch der Text spricht klar von einem lauten, sichtbaren Ereignis: Posaune, Engelsruf, Herabkommen des Herrn. Nichts deutet auf Heimlichkeit hin. Außerdem verbindet Paulus Entrückung und Auferstehung. Die Auferstehung geschieht nach Joh 6,39–40 aber „am letzten Tag“, nicht sieben Jahre zuvor. „Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune.“ (1. Kor 15,51–52) Auch hier: die „letzte Posaune“. Wenn es eine letzte Posaune gibt, kann es keine weitere „vorletzte Entrückungsposaune“ geben. Paulus spricht von der Vollendung am Ende der Zeit.
„Weil du das Wort vom standhaften Harren auf mich bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung…“ (Offb 3,10). Der Ausdruck „bewahren vor“ (griech. *tēreō ek*) bedeutet nicht „herausnehmen“, sondern „bewahren mitten in“. In Joh 17,15 bittet Jesus den Vater, seine Jünger nicht aus der Welt zu nehmen, sondern sie vor dem Bösen zu bewahren. Bewahrung bedeutet Schutz im Leid, nicht Flucht davor. „Denn Gott hat uns nicht zum Zorn bestimmt, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unseren Herrn Jesus Christus.“ (1. Thess 5,9). Das bezieht sich nicht auf die Trübsal, sondern auf den endgültigen Zorn Gottes im Gericht. Christen sind vom ewigen Verderben befreit, nicht vom irdischen Leiden. Bedrängnis ist Teil des Christenlebens (Apg 14,22).
Ein Kernargument der Vorentrückungslehre lautet: Die Trübsal betreffe nur Israel, die Gemeinde sei vorher entrückt. Grundlage ist eine dispensationalistische Deutung von Daniel 9. Doch das Neue Testament betont: In Christus ist die Mauer zwischen Juden und Heiden niedergerissen (Eph 2,14–16). Es gibt nur ein Volk Gottes. Paulus sagt klar: „Da ist weder Jude noch Grieche… ihr seid allesamt einer in Christus“ (Gal 3,28). Jesus selbst richtet seine Warnungen zur Trübsal an seine Jünger (Mt 24,9–31). Er unterscheidet nicht zwischen einer weggenommenen Gemeinde und einem zurückgelassenen Israel.
Oft wird behauptet, die Gemeinde komme in der Offenbarung nach Kapitel 3 nicht mehr vor, daher sei sie entrückt. Doch Argumente aus Schweigen sind schwach. Johannes beschreibt ab Kapitel 4 den himmlischen Thronsaal und die Gerichte auf Erden – da ist von „Gemeinden“ als organisatorische Größe nicht die Rede. Dennoch werden „die Heiligen“ mehrfach erwähnt (z. B. Offb 13,7; 14,12). Diese Heiligen sind Gläubige, die mitten in der Trübsal standhaft bleiben.
Die Schrift kennt keine zwei Etappen des Kommens Jesu. Hebr 9,28 spricht von einem einmaligen Erscheinen „zum Heil denen, die auf ihn warten“. Mt 24,30–31 beschreibt die Wiederkunft mit kosmischen Zeichen, Engel sammeln die Auserwählten. Alles geschieht in einem großen, abschließenden Ereignis. Jesus verheißt seinen Jüngern nicht die Flucht vor dem Leid, sondern den Sieg im Leid: „In der Welt habt ihr Bedrängnis; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Joh 16,33). Paulus sagt: „Durch viele Bedrängnisse müssen wir in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22). Eine Lehre, die Christen Leidfreiheit zusagt, widerspricht der Realität neutestamentlicher Nachfolge.
Die Bibel zeigt ein Muster: Gott rettet seine Kinder nicht durch Flucht vor dem Gericht, sondern durch Bewahrung darin. Noah wird nicht vor der Flut entrückt, sondern in der Arche hindurchgerettet. Israel wird nicht vor Ägyptens Plagen entfernt, sondern inmitten bewahrt. Daniel wird nicht vor die Löwengrube entrückt, sondern darin geschützt. Ebenso wird die Gemeinde in der Trübsal bewahrt.
Die Lehre von der Vorentrückung birgt aber vor allem auch theologische Gefahren. Die Fluchtmentalität, dass Christen eine Rettung vor Leid erwarten statt Standhaftigkeit im Leid zu beweisen, verknüpft mit der falschen Hoffnung, eine Sonderbehandlung zu erhalten, die die Bibel nicht zusagt, sind gefährliche Trugschlüsse, die insbesondere auch zu einem Wohlstandsevangelium führen. Wem es also gesundheitlich nit gut geht, glaubt folglich nicht genug oder gibt vieleicht nicht genug. Die Lehre spaltet somit nicht nur Christen untereinander, sonder im ganzen auch das Volk Gottes in Israel und der Gemeinde entgegen seiner Einheit in Christus. Damit lenkt sie vom ursprünglichen Auftrag, der Wachsamkeit, Nüchternheit und Treue in der Endzeit ab und ruft die Gläubigen zu einer illusorischen Hoffnung auf ein „Vorher-Weggenommenwerden“.
Zusammenfassen bleibt festzustellen, dass die Vorentrückungslehre weder in der Bibel noch in der Kirchengeschichte begründet ist. Sie ist eine moderne Sonderlehre des 19. Jahrhunderts, die durch Fehlinterpretationen einzelner Verse entstand. Sämtliche Argumente dafür lösen sich bei genauer Exegese auf: 1. Thess 4 beschreibt die laute, sichtbare Wiederkunft Christi am letzten Tag. Offb 3,10 verheißt Bewahrung im Leid, nicht Flucht vor dem Leid. Die Gemeinde ist Teil der Trübsal und wird darin geprüft, nicht vorher entfernt. Es gibt nur eine Wiederkunft Jesu, kein zweigeteiltes Szenario.Die Bibel zeigt klar: Die Gemeinde Jesu wird durch Leiden hindurchgehen, aber in Christus bewahrt bleiben. Unsere Hoffnung gründet sich nicht auf eine Flucht vor der Trübsal, sondern auf das sichere Kommen unseres Herrn, der uns am Ende verherrlicht. Wer die Vorentrückungslehre vertritt, baut auf Sand. Wer sich an das Zeugnis der Schrift hält, wird feststehen – in Bedrängnis wie in Herrlichkeit.